Wen es zufällig und ohne Vorahnung über Pfingsten nach Leipzig verschlägt, der erlebt sein schwarzes Wunder.
Bleich geschminkte Gestalten in schwarzer Spitze und Reifröcken, mit Lackklamotten, Korsetts, hochtoupierten Frisuren, Hörnern auf dem Kopf oder schwarzen Sonnenschirmchen in der Hand flanieren mitten am hellichten Tag durch die Leipziger City. Geschäfte von der Apotheke bis zum Haushaltswarenladen haben ihre Schaufenster schwarz dekoriert, für wenige Tage gibt es eine neue (schwarze) Straßenbahnlinie, die Hotelpreise steigen in astronomische Höhen und Restaurants haben auf einmal ein “Gotik”-Menü.
Was ist da los?
Kostümierte Besucher auf den Weg in den Clara-Zetkin-Park in Leipzig
Wave Gotik Treffen: ein Festival der etwas anderen Art
Das Wave Gotik Treffen ist los, ein Gothic Festival, das als weltgrößtes seiner Art gilt und jedes Jahr ca. 20.000 Anhänger der schwarzen Szene über Pfingsten nach Leipzig lockt – und das bereits seit 25 Jahren. Auch für mich gibt es an Pfingsten seit Jahren nur noch ein Reiseziel: das WGT Leipzig! Warum?
Das #WGTLeipzig ist einfach abgefahren.
Ihr müsst euch das so vorstellen: Hier treffen sich über 20.000 Gruftis bzw. Menschen diverser dunklerer Subkulturen aus aller Welt und jeglicher Altersstufe (!) von der Kleinkind-Familie bis zur Oma und besuchen über 200 Konzerte und Kulturveranstaltungen an fünf Tagen. Diese reichen über diverse schwarze Subkulturen und Musikstile hinweg – vom viktorianischen Picknick über das klassische Orgelkonzert, vom Mittelaltermarkt bis zur Fetischparty.
Es gibt zwar ein Festivalgelände im Süden Leipzigs (im alten agra-Messepark) mit Konzerthalle und Zeltplatz, doch die Konzerte, Partys und Veranstaltungen sind in der ganzen Stadt verteilt – von Clubs über Museen und Kirchen bis zur Friedhofsführung – dieses Jahr an fast 50 Locations in ganz Leipzig. Die meisten Festivalbesucher (mich eingeschlossen) wohnen sowieso lieber in Hotels und Ferienapartments (die viele Monate und z.T. sogar Jahre im Voraus gebucht werden müssen) als zu zelten – was auch dem aufwändigen Styling der Besucher entgegenkommt.
Beim WGT Leipzig kommen mehrere tolle Dinge zusammen.
Ein Festival voller abgefahrener Menschen in interessanten Looks und von überall her voller bizarrer, aber durchaus unterhaltsamer Momente und Veranstaltungen, das zudem noch in einer sehr coolen und schönen Stadt ist, in der es sich durchaus lohnt, mal seinen Urlaub zu verbringen.
Zudem ist die Stimmung immer äußerst friedlich und freundlich (ich habe noch nie so wenig Polizeipräsenz und Security bei einer Großveranstaltung gesehen). Trotz des düsteren Looks haben alle Spaß und die Leipziger selbst scheinen dem WGT auch offen und interessiert gegenüberzustehen, kommen gern mal ins Gespräch und zücken die Kameras. (Ich liebe ja diese WGT-Momente, wenn z.B. eine Leipziger Oma im Park das Fetisch-Outfit einer Besucherin bewundert oder eine Leipziger Bäckerei zum WGT extra “Vampirzähnchen” backt.)
Schwarzes Flanieren in der Leipziger City, schwarze Tram-Linie, schwarze Schaufenster-Deko, “Gothic-Menüs” in Restaurants: zu Pfingsten wird Leipzig schwarz
Wave Gotik Treffen 2016: Jubiläum mit Grufti-Achterbahn
2016 feierte das “WGT” bereits sein 25. Jubiläum (!) und war mit 23.000 Besuchern und über 240 Veranstaltungen an fast 50 Locations sogar noch bisschen größer als in den Vorjahren. Zur Feier des Jubiläums wurde am Vorabend des Festivals (Donnerstag vor Pfingsten) sogar ein ganzer Freizeitpark (!) für die Eröffnungsfeier gesperrt, so dass die Besucher bis spät in die Nacht mit allen Achterbahnen und Fahrgeschäften fahren konnten.
Schwarzer Freizeitpark Belantis beim 25. WGT. Foto oben: Robin Kunz, www.rk-photografie.de
Das Ganze war ein leicht bizarres, aber doch sehr unterhaltsames Erlebnis: Achterbahnen voller kreischender Gruftis, ein großes Feuerwerk und DJs, die auf mehreren Floors auflegten, u.a. innen in der großen Pyramide (die mich immer an Las Vegas erinnert), während alle paar Minuten an der Außenwand ein Boot senkrecht die Wasserrutsche hinunterraste – natürlich wieder voller kreischender, schwarzgekleideter Gestalten, die anschließend fröhlich bunte Lebkuchenherzen kauften und Zuckerwatte mampften. Definitiv mal was Anderes!
Zum viktorianischen Picknick in den Park – why not!
Eines meiner WGT-Highlights war am Freitag wieder das “Viktorianische Picknick im Park”, bei dem sich hunderte in fantasievollen Kostümen mit Picknickdecken bewaffnet im Clara-Zetkin-Park in Leipzig einfanden – zudem diverse Einheimische und Fotografen (die meisten Fotos vom WGT entstehen hier).
Hier trifft man hauptsächlich die Freunde der barocken, viktorianischen und düsterromantischen Richtung, aber auch Steampunk, LARP- und Fantasy-Elemente sind vertreten – von schwarz bis knallbunt. Für viele ist das Picknick (das noch nicht einmal Teil des offiziellen WGT-Programms ist) der Höhepunkt des ganzen WGT, in das dementsprechend viel Mühe, Geld und Kreativität gesteckt wird.
Denn wann sonst hat man mal die Gelegenheit, solche Outfits in der Öffentlichkeit zu präsentieren?
…meine Freundin Lena und ich (re.)
…Ach so: weiß geht beim WGT auch!
…und bunt gibt’s auch! Wie diese Besucher zeigen
…Leipziger Bewohner treffen auf aufwändig kostümierte Besucher…
…beim WGT darf man mal wieder Kind sein
…diese Herrschaften picknicken mit Stil…
…fast ein Jahr lang haben diese Herren an einer Steampunk-Maschine gebaut. Sie fährt selbst und spielt Musik!
Beim Schlendern durch den Park sehe ich jedenfalls jedes Jahr tolle inspirierende und verrückte Styles und komme mit vielen interessanten Leuten ins Gespräch, genieße aber auch das Picknick mit Freunden und Bekannten (manche sehe ich nur einmal im Jahr – hier!).
Zeitgleich fand übrigens auch im Panometer in Leipzig (ein Gasspeicher aus der Gründerzeit) das Victorian Village statt – eine Parallelveranstaltung im etwas geschlosseneren Rahmen, zu dem ich es aber dieses Jahr leider nicht geschafft habe.
Konzerte und Partys: die Qual der Wahl und Highlights
Wie immer wirst du beim WGT nur die Hälfte aller Konzerte und Veranstaltungen besuchen, die du dir vorgenommen hast. Denn es findet zum einen alles parallel und gleichzeitig statt und du brauchst in der Stadt mit der Straßenbahn zum Teil relativ lange von A nach B.
Zudem sollte man an einigen Locations schon rechtzeitig vorher da sein, um noch reinzukommen – was sich auch dieses Jahr vor allem beim Kohlrabizirkus wieder als problematisch herausstellte, als z.B. am Freitag Abend einfach niemand mehr zum Konzert der Szene-Ikonen Project Pitchfork hineinkam. Man merkte einfach an langen Schlangen vor vielen Locations (Volkspalast, Mark Benecke-Lesung, Ausstellungen…), dass es dieses Jahr nochmal ein paar tausend Besucher mehr waren.
Oft sollte man seinen vorher zurechtgezimmerten Zeitplan einfach mal über Bord werfen und sich einfach treiben lassen.
So kam ich dieses Jahr in den Genuss von Bands wie Leaves’ Eyes (im Heidnischen Dorf, mit neuer Sängerin) und die eigentlich szenefremden Nouvelle Vague, die live übrigens noch viel großartiger sind als auf CD und sogar richtig rocken und Stimmung machen (auch unter dem schwarzen Volk), und die ich sonst verpasst hätte. Auch das erst ganz kurzfristig angekündigte Konzert der Electro-Pop-Band Welle:Erdball im Kohlrabizirkus am Sonntag wurde zu einem meiner diesjährgen WGT-Highlights (ich sag nur C64-Sound und Konfetti!).
Bilder: Nouvelle Vague (o.) rockten am Freitag in der Agra-Halle. Ballone, Konfetti und Engel bei Welle:Erdball im Kohlrabizirkus am Sonntag.
Weitere Band-Highlights, die dieses Jahr auf dem WGT auftraten, waren Das Ich, Die Krupps, Pink Turns Blue, Gothminister, Faun, Diary of Dreams, Eric Fish, Legend, Drangsal, Crematory, Mesh, Spetsnaz, Bauhaus-Legende Peter Murphy oder die Leipziger Elektroniker von Amnistia oder die Stuttgart Post Punk-Band XTR Human. Klar spielen jedes Jahr einige bekannte Szenegrößen, doch vorrangig ist das WGT ein Festival für den Underground und die weniger bekannten Bands. (Das stört viele, doch ich finde das immer ganz interessant und freue mich immer auch über vermeintlich szenefremde Acts wie eben Nouvelle Vague). Hier könnt ihr euch einen musikalischen Eindruck verschaffen:
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Neben Konzerten gibt es beim WGT aber auch Lesungen und Vorträge (wie von Mark und Lydia Benecke), ein “Stricknachmittag für Schwarzromantiker” (kein Witz), Führungen über den schönen Leipziger Südfriedhof, dieses Jahr die “lange Max Reger Orgel-Nacht” in sechs Leipziger Kirchen, zwei Mittelaltermärkte (am schönsten ist der im Heidnischen Dorf). Mehrere Museen bieten den WGT-Besuchern kostenlosen Eintritt und passende Sonderausstellungen (z.B. “Gesichter des Wave Gotik Treffens” im Grassi-Museum). Zudem gab es dieses Jahr auch wieder das Steampunk Picknick und sogar eine Leichenwagen-Parade.
Nachts legen DJs in verschiedenen Clubs in der ganzen Stadt auf (von der Old School 80er Goth “When we were young” oder “Queer Wave” Party bis zur “Obsession Bizarre”-Fetischparty). Zu meinen Party-Lieblings-Locations gehören eindeutig der Volkspalast (große runde Kuppelhalle mit Säulen), das Täubchenthal (altes Fabrikgebäude mit Club im Retro-Stil mit Galerie, Riesen-Leuchtern und gemütlichem Innenhof), die Moritzbastei (Club in alter Festungsanlage mitten in der Innenstadt) und – neu entdeckt – Noel’s Ballroom (total verwinkelter und cooler Irish Pub mit Club). Ihr solltet daher noch genügend Energie für nachts aufsparen (und bequeme Schuhe)!
Ach so: Shoppen könnt ihr auf dem WGT natürlich auch ausgiebig. Insbesondere beim schwarzen Markt in der großen Agra-Festivalhalle, eine Messehalle voller Stände mit düsteren Klamotten und Accessoires vom Federkopfputz über Vampirzähne bis zum bunten Rockabillykleid. Davor und danach flaniert ihr auf der Agra-Festival-Meile und beobachtet Besucher (der Ort des Sehen-und-Gesehen-Werdens beim WGT), hört euch ein paar Konzerte an oder geht rüber zum Heidnischen Dorf auf einen Met.
Flanieren, Besucher und Shopping auf dem Agra-Festivalgelände…
Leipzig: Hauptstadt der schwarzen Szene
Warum und wie Leipzig zur “Hauptstadt der schwarzen Szene” werden konnte, erklärt derzeit die Ausstellung „Leipzig in Schwarz. 25 Jahre Wave-Gotik-Treffen“ im Stadtgeschichtlichen Museum, die ihr noch bis zum 24.7.2016 besuchen könnt.
Sie stellt die schwarze Szene anhand von Texten, Video-Interviews, Fotos und Ausstellungsstücken wie Klamotten und Accessoires vor und erklärt die Entstehungsgeschichte des Wave Gotik Treffens. In Leipzig gab es nämlich schon in den 1980er Jahren eine lose schwarze Szene, die als “feindlich-negative Elemente” der DDR ins Visier der Stasi gerieten.
Schlangen vor der Ausstellung “Leipzig in schwarz” im Stadtgeschichtlichen Museum
Über diesen sehr interessanten Teil der Szene-Geschichte berichtet übrigens seit einigen Jahren während des WGT auch immer eine sehr gute Ausstellung „Gruftis, Punks und Co. – Alternative Jugend im Visier der Stasi“ im Museum in der Runden Ecke (“Stasi-Museum”) in Leipzig.
1988 wurde ein großes “Grufti”-Treffen in Potsdam mit 200 Besuchern von der Staatsmacht aufgelöst, es gab mehrere Verhaftungen. Nach der Wiedervereinigung fingen die WGT-Gründer zunächst an, Clubabende in Leipzig zu veranstalten. Waren es beim ersten WGT 1992 noch 2.000 Besucher, kamen 1998 schon 12.000, mittlerweile haben sich die Besucherzahlen auf ca. 20.000 eingependelt.
25 Jahre später hat sich das “WGT” in Leipzig etabliert und ist zudem ein Wirtschaftsfaktor geworden.
Für mich bedeutet das WGT ein paar Tage Ausbrechen aus dem Alltag, Freiheit, Spaß, Freunde, Inspiration, Urlaub, Heimkommen, eine tolle Reise. (Aus diesen Gründen erinnert es mich auch ein bisschen ans Burning Man).
Durch das Wave Gotik Treffen ist Leipzig ein ganz besonderer “schwarzer Punkt” auf der persönlichen Weltkarte meiner Reisen geworden.
Weshalb ich mich schon jetzt auf meine nächste Reise zum #WGTLeipzig 2017 freue!
Bye bye, Leipzig! Bis zum nächsten Jahr…
Würdet ihr zum Wave Gotik Treffen fahren oder wart schon mal da? Wie habt ihr das WGT erlebt?
Das interessiert dich vielleicht auch:
Mein Bericht vom Wave Gotik Treffen 2015
Warum man an Pfingsten nach Leipzig reisen sollte (Wave Gotik Treffen 2013)
Meine Eindrücke von meinem ersten Burning Man-Festival in Nevada
Mein WGT Leipzig Guide gemeinsam mit Leipzig Travel (wird jedes Jahr zum WGT wieder aktualisiert!)
Hi Susi,
Ich hatte dieses Jahr überlegt, zum ersten Mal zum WGT zu fahren, meine Schwester wohnt inzwischen in Dresden, und wir wären auf dem Weg vorbeigefahren. Muss für kleine Kinder auch toll sein tagsüber, so viel zu Gucken 😉 die Playlist ist toll, eine tolle Idee, wenn du bei anderen reisen auch Musik entdeckst, ist das sicher für Leser auch schön zu hören beim lesen.
Viele Grüße und vielleicht sehen wir uns ja mal wieder (anderswo als im Flughafenbus ;-))
Jan
Hallo Jan, vielen Dank für deinen Kommentar und ja, vielleicht sehen wir uns ja dann beim WGT (wobei auch der Flughafenbus ein lustiger Ort der Begegnung sein kann ;)).
Du hast Recht, im Rahmen des Wave Gotik Treffens gibt es auch für Besucher, die nicht am Festival teilnehmen, viel zu kucken! Und es gibt viele Veranstaltungen, die man auch ohne Festivalbändchen besuchen kann, wie das viktorianische Picknick oder die Mittelaltermärkte. Leipzig ist dann halt aber auch ziemlich voll (und schwarz!). Viele Grüße und bis bald!
Für mich als Schüler und später Student war das WGT immer ein schönes Schauspiel. Ich fand es beeindruckend mit welcher Hingabe und Kreativität die Besucher sich gekleidet haben. Und der Hauch von Internationalität gab Leipzig einen schönen Anstrich. Damals war es zwischenzeitlich mal sehr provinziell sonst.
Susi, Dein Dress übrigens: Très chic!
Merci beaucoup! Ja, das muss sehr interessant sein, das WGT aus der Sicht der Leipziger Bewohner (und auch sehr bizarr vermutlich ;-)). Ich kann mir jedenfalls nur wenige Städte in Deutschland vorstellen, die offen genug für so ein Festival wären und wo das so gut funktionieren würde. Ich freue mich außerdem auch immer, WGT Besucher aus dem Ausland zu treffen. Tausende kennen Leipzig ja nur durch das Wave Gotik Treffen – das muss man sich mal vorstellen. 🙂
Hallo,
durch Zufall bin ich gerade auf deine Seite und deinen Bericht über das WGT gestoßen – wirklich toll geschrieben! War dieses Jahr zum ersten Mal (früher war ich, was Grufti-Festivals anging, eher auf dem Amphi unterwegs) und es war grandios 🙂 Auch wenn das Wetter leider nicht so toll mitgespielt hat – da bekommt man auf deinen Fotos ja gleich nen anderen Eindruck ;D
Waren dieses Jahr während unseres Skandinavien Roadtrips auch auf unserem ersten Metal-Festival im Ausland (halt, Lüge, wir waren 2015 spontan nen Tag bei “Rock in Vienna”, aber als Bayer ist Österreich nur so halb Ausland ;D) , und es war eine ganz tolle Erfahrung!
VG, Coco
Vielen Dank!! Ein Metal-Festival im Ausland klingt auch gut – ich bin sowieso dafür, dass man Reisen öfter mit Festivals/Konzerten verbinden sollte. 😉 (Wie bei mir mit Leipzig oder dem Burning Man in den USA.) Nächstes Jahr bin ich jedenfalls wieder in Leipzig dabei!
Ja, da stimme ich dir vollkommen zu, Reisen und Konzerte sind eine tolle Verbindung! 🙂 Ich hoffe auch, dass ich es nächstes Jahr wieder auf das WGT schaffe… Wir liebäugeln auch mit den Metaldays in Slowenien… Das Reisejahr wird spontan geplant 🙂
Na dann sehen wir uns ja vielleicht auf dem WGT! (Metaldays in Slowenien klingt ja auch spannend… ;-))